Mit dem abwesenden Gott leben.
Herbert Schnädelbach im Streitgespräch mit dem evangelischen Bischof Horst Hirschler

Hirschler: Früher habe ich auch gedacht, das ist alles Unsinn, wenn da am Anfang der Bibel in der Geschichte vom Sündenfall steht: Adam und Eva essen vom Baum der Erkenntnis, und danach sehen sie nur, dass sie nackt sind. Mehr nicht, das war doch lachhaft. Später habe ich begriffen: Die Schlange sagt, ihr werdet wissen, was gut und böse ist, das heißt: Ihr werdet alles wissen. Dadurch haben die Menschen ihre Arglosigkeit verloren, die selbstverständliche Einheit mit der Welt, wie sie das Tier hat. Die sind dadurch in der Entfremdung. Der Mensch weiß nicht, warum er auf der Welt ist.

Schnädelbach:  Auch ich finde die Sündenfallgeschichte ausgesprochen faszinierend. Aber diese Geschichte hat nichts mit der christlichen Lehre von der Erbsünde zu tun. Dass man als Mensch schuldig werden kann, ja unweigerlich werden muss, ist unbestrit-ten. Aber es gibt doch einen Unterschied zwischen
Schuldfähigkeit und Schuld. Die Behauptung, dass alle Menschen als Sünder geboren werden, und zwar als Sünder im Sinne von Schuldigen, halte ich für eine verhängnisvolle Weichenstellung des frühen Christentums.

Hirschler:  Das ist es aber nicht. Sünde heißt: von Gott getrennt sein. So verstanden, in dieser Bedeutung, kann man durchaus sagen, dass die Menschen in die Sünde hinein geboren werden. Das heißt nicht, dass wir mit persönlicher Schuld beladen in die Welt kämen, sondern dass wir von Anfang an Menschen ohne Gottvertrauen sind. In Sünde geboren werden heißt also nichts anderes, als dass wir Menschen das ursprüngliche Gottvertrauen verloren haben.

Schnädelbach: Einspruch! Bei Ihrer Deutung der Erbsündenlehre fällt das Entscheidende weg. In einem breiten Strom christlicher Tradition heißt Sünde eben nicht einfach nur Schuldfähigkeit oder Trennung von Gott, sondern Sünde heißt schuldig sein. Und schuldig sein heißt, diese Schuld muss bezahlt werden.

Hirschler:  Warum scheuen Sie denn so das Schuldigsein? Sie wissen doch, dass wir alle immer wieder anderen etwas schuldig bleiben. Warum wollen Sie das nicht zugeben?

Schnädelbach: Das gebe ich gerne zu! Aber Schuld gibt es doch nur unter Menschen. Jemandem etwas zu schulden ist doch etwas anderes, als sich schuldig gemacht zu haben. Sie sagen, Sünde heißt nach christlichem Verständnis Getrenntsein von Gott. Was hat das mit Schuld zu tun?

Hirschler: Wenn ich über mich nachdenke, dann stelle ich doch eine Distanz fest zwischen mir und der Welt. Ich muss fragen, warum ist etwas und nicht nichts. Ich muss mir Gewissheit verschaffen in der Welt, weil ich Angst um mich selbst habe. Deshalb sagt die christlich-jüdische Tradition: Du sollst zuerst auf Gott vertrauen. Das aber gelingt dem Menschen nicht, weil er zuviel Angst um sich hat.

Schnädelbach: Jetzt weichen Sie aus. Schuld heißt doch immer, dass man jemandem konkret etwas vorwirft. Ich sehe nicht ein, warum ich mir dauernd Adams Fall vorwerfen lassen soll.

Hirschler: Es geht bei der Erbsünde auch um die Schuld von Mensch zu Mensch, aber keinesfalls zuerst. Sie selbst werden doch auch humanistische Prinzipien für ihr Leben haben. Auch denen gegenüber werden sie dauernd schuldig, weil Sie sich nicht dran halten. Sie werden nicht nur an Menschen schuldig, sondern auch an ihren Prinzipien. Da steckt schon mehr dahinter als nur die jeweils konkrete Schuld gegenüber dem anderen Menschen.

Schnädelbach: Dass Menschen automatisch schuldig sein sollen, ist für mich ein menschenverachtender Gedanke.

Hirschler: Aber was ist denn menschenverachtend daran, wenn die christliche Lehre von der Erbsünde sagt: Du bekommst es nicht hin, auf Gott zu Vertrauen?

Schnädelbach:  Das ist doch keine Schuld! Ich nehme einmal an, es gäbe Gott, und er sagte zu mir: Du sollst mir Vertrauen. Ich würde antworten: Ich kann das aber nicht. Wieso wäre ich dann schuldig? Wir haben ein Problem mit den Begriffen.

Hirschler:  Ja, Sie wollen mich im Zusam-menhang mit Schuld und Sühne auf ein moralisches Verständnis festlegen. Eine vererbbare konkrete Schuld des Einzelnen ist mit Erbsünde nicht gemeint. Es geht um das ganze Sein des Menschen in der Entfremdung, das sich in seinen Taten zeigt. Die Gedanken, die sich in der Erbsündenlehre ausdrücken, vermitteln ein sehr realistisches Menschenbild. Und zwar in dem Sinne, wie es der Theologe Paul Tillich gesagt hat: Wenn du das mit der Erbsündenlehre verstehen willst, dann musst du über die Entfremdung des Menschen nachdenken.

Schnädelbach: Meine Perspektive ist die des Philosophen und des Nichtchristen. Dass es immer wieder Theologen gegeben hat und wohl auch noch geben wird, die all diesen schrecklichen Dingen einen vernünftigen Sinn abgewinnen können, mag ja sein. Aber ich meine, der Begriff der Erbsünde hat sich kulturgeschichtlich verheerend ausgewirkt. Ich halte mich da an die Volksfrömmigkeit, die man gut an den furchtbaren protestantischen Passionschorälen studieren kann. Die hab ich in meiner Jugend als Kirchenorganist zur Genüge kennen gelernt. Zum Beispiel aus der Matthäuspassion: "Ich bin's, ich sollte büßen, an Händen und an Füßen, gebunden in der Höll'...."

Hirschler:  Glauben Sie wirklich, dass die Menschen, die das gedichtet oder gesungen haben, sich vorstellten, sie müssten in der Hölle braten? Und wenn wirklich, dann ist das doch nur ein Bild, dass sie verinnerlicht haben, um zu zeigen, was es heißt, ewig von Gott getrennt zu sein.

Schnädelbach: Also ich kann weder mit Erbsünde noch mit der so genannten Rechtfertigungsbedürftigkeit des Menschen vor Gott etwas anfangen. Für mich gibt es Gott nicht!

Hirschler:  Ich finde es auch von der Warte des Philosophen völlig unsachgemäß, wenn Sie sagen: Ich kann mit Gott nichts anfangen. Wenn Sie nicht nach Gott fragen, dann leben Sie unter Niveau. Sie müssen ja als Antwort nicht das Christentum haben. Aber so etwas wie Gott, also eine Antwort auf die Sinnfrage, das müssen Sie doch haben! Wofür sind Sie denn sonst da? Was ist das für eine Eintagsfliege, lieber Herr Philosoph?

Schnädelbach: Sie können mir wirklich glauben, dass ich weiß, was Religiosität ist und dass ich als Philosoph sehr wohl weiß, was Sinnfragen sind. Ich bin auch der Ansicht, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens, die ich für eine entscheidende Frage halte, nur beantwortet werden kann, wenn man sie in einen größeren Zusammenhang stellt. Aber ich muss zurückweisen, dass ich die Gottesfrage nur in christlichen Denkmustern behandeln muss.

Hirschler:  Das müssen Sie auch nicht. Ich habe gesagt, ,,so etwas wie Gott".

Schnädelbach: So etwas wie Gott! Was ist denn das? Da würde ja sogar ich sagen: Das ist fast schon Gotteslästerung. Also entweder Gott oder gar nicht! Glauben Sie mir, ich habe ein Verständnis für diese Fragen. Aber das bedeutet nicht, eine Antwort zu haben. Sie sagen, Sie haben als Christ eine. Na gut. Ich als Nichtchrist habe keine.

Hirschler: Das nehme ich Ihnen nicht ab. Sie können doch nicht nur Fragen stellen. Vor allen Dingen nicht in Ihrem ganz alltäglichen Verhalten. Jeder Mensch lebt in Antworten. Wenn Sie sagen, das mache ich jetzt, das lohnt sich, geben Sie eine Antwort auf die Sinnfrage.

Schnädelbach: Natürlich, das ist doch unbestritten. Aber was hat das mit Gott zu tun?

Hirschler: Das ist Gott. Gestatten Sie mir, kurz zu erläutern, warum ich vorhin gesagt habe "so etwas wie Gott". Nach der Zugkatastrophe bei Eschede 1998 stand kurz darauf im Spiegel, die Deutsche Bahn AG habe es allein "den Mächten des Schicksals" zu danken, dass das Unglück nicht noch viel schlimmer ausgefallen ist. Als ich das las, habe ich gedacht, warum schreiben die "Mächte des Schicksals"? Es ist klar, was das passiert ist: Der Autor konnte nicht "Gott" schreiben, das würden nicht zum Spiegel passen. Aber einfach "Glück" zu schreiben, erschien ihm wohl zu primitiv. Der Spiegel-Autor versuchte "so etwas wie Gott" auf einen Begriff zu bringen, denn er wollte ausdrücken: Wir Menschen sind hineingeworfen in diese Welt. Es gibt Sachen, die wir selbst verursachen, es gibt Schicksalhaftes, an dem ich nichts machen kann. Müssen Sie nicht auch als Philosoph Worte dafür haben, was mit dem Wort "Gott" im Tiefsten gemeint ist, nämlich dass unser Leben nicht eine Eintagsfliege ist und nicht belanglos?

Schnädelbach: Sie argumentieren mit einem Bedürfnis, das wir zweifelsohne haben. Auch ich habe in meinem Leben Dinge er-lebt, wo ich dachte: Jetzt möchte ich mich eigentlich bei jemandem bedanken. Schon als Kind. Wir haben den schweren Luftangriff auf Dresden 1945 überstanden, und ich keine Angst. Umgekehrt machen wir ja auch häufig die Erfahrung, eigentlich ist niemand schuld, aber ich muss mich bei jemandem beklagen oder jemanden verantwortlich machen. Aber diese Stelle ist leer. Sie füllen diese Stelle mit "Gott" oder mit "so etwas wie Gott". Sie haben also eine Chiffre oder ein Symbol dafür. Ich finde es intellektuell redlicher, diese Stelle leer zu lassen.

Hirschler:  Aber Sie lassen sie doch nicht leer, Sie füllen sie auf Ihre Weise!

Schnädelbach: Nein, das tue ich nicht. Wenn jemand für sich diese Stelle mit einem persönlichen Gott zu füllen vermag, dann habe ich nichts dagegen. Auf die Frage nach dem Sinn des Lebens aber kann mir auch kein Theologe eine Antwort geben. Ich bin davon überzeugt, dass man die Antwort auf diese Frage selbst finden muss. Ich habe nichts gegen Religiosität. Aber ich habe etwas gegen eine Form von Religiosität, die für alle verbindlich gemacht wird. Wenn Sie mir sagen, ich müsste diese Leerstelle irgendwie besetzen, sonst führte ich eine Eintagsfliegenexistenz, kann ich das nicht akzeptieren. Gauben Sie mir, ich kann ganz gut mit dem abwesenden Gott leben.

Hirschler:  Das glaube ich Ihnen nicht! Wenn Sie Gefühle der Dankbarkeit haben und nicht "Gott" sagen wollen, sagen Sie sich dann: "meine leere Stelle" hat mir geholfen?

Schnädelbach: Nein, natürlich nicht. Und das muss ich auch nicht sagen Es gibt vielleicht ein Gefühl der Dankbarkeit. Und das ist gut, das ist erst mal genug. Das muss keinen Adressaten haben. Mein Gefühl an dieser Stelle ist auch eher diffus. Ich finde, das sind sehr persönliche Sachen, darüber wollten wir doch eigentlich gar nicht reden, sondern wir wollten über das Christentum reden.

Hirschler:  Das tun wir doch. Das Christentum ist doch etwas sehr Persönliches. Sie können es doch nicht von der persönlich-existentiellen Ebene abtrennen.

Schnädelbach: Ich bin nicht bereit, das Christentum als einen kulturhistorischen Faktor auf existenzielle Frömmigkeit reduzieren zu lassen.

Hirschler:  Aber das gehört nun mal zusammen. Sie hätten es gerne säuberlich getrennt: hier die Kirche und hier der Einzelne. Was der einzelne Christ denkt, ist egal, entscheidend sind nur die Taten der Institution. Das geht nicht.

Schnädelbach: Aber wir reden jetzt schon von "Leerstelle" und solchen Dingen. Was bitte hat das noch zu tun mit dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs oder mit dem dreieinigen Gott, der jeden Sonntag im christlichen Gottesdienst bekannt wird? Ich meine, das ist doch etwas völlig anderes als das, was auf den Kanzeln gepredigt wird und was in der Bibel steht.

Hirschler: Nein, das denke ich nicht. Es geht uns ja um Grundlagen. Sie haben doch eben selbst gesagt, dass Sie bei gewissen Fragen Leerstellen haben, und dass wir Christen, die wir von Jesus und dem dreieinigen Gott sprechen, diese Leerstellen besetzen. Und das ist typisch christlich.

Quelle: Information Philosophie 5, Dezember 2001, S. 74-77; Erstveröffentlichung in "Chrisma Plus"01/2001;vgl.:
http://www.chrismon.de/ctexte/2001/1/1-4.html
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Gehe zu:
Erwin Bader:
Einige Überlegungen zum Dialog zwischen Schnädelbach und Hirschler.

Mit einem Briefwechsel mit Schnädelbach.

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Siehe auch:

Braucht der Mensch Gott, um gut zu sein? Der kurze Weg vom Herrn Keuner zu Kant.

Das Wort "Gott ist tot"

Die Einzigartigkeit Gottes und der Dialog der Religionen

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