W. SCHMIDT-WULFFEN
Auszug aus Beitrag in: Geographie u. ihre
Didaktik (GUID) H. 4 / 1995,
Das Topographie-Thema – ein Dauerhit fachdidaktischer Veröffentlichungen oder eher ein Spiegel innerer Verunsicherung ?
Kaum
ein anderes Thema scheint – legt man Häufigkeit und Regelmäßigkeit
entsprechender Erörterungen seit 1970 zugrunde – vielen Fachdidaktikern
(affektiv) mehr ans Herz gewachsen zu sein als die Frage nach Erfolg oder
Vergeblichkeit topographischer Lernbemühungen.
Vergleichbar
sind allenfalls die Fragen nach Gewichtung und Stellenwert Physischer Geographie
und des Lernens von Begriffen... Und bei allen Beiträgen kann man eine
Verunsicherung, eine Furcht vor einem Identitätsverlust als eigentliches Motiv
sachbezogener Erörterung herauslesen – so man dies will.
...
Dafür
ist es notwendig, sich auf einige Fragen einzulassen, die in der Diskussion nie
gestellt werden. ... :
·
In
welchem Lebensabschnitt, an welchem Ort und in welchen Zusammenhängen wird
topographisches Wissen hauptsächlich erworben ? Ist es tatsächlich die Schule
? Verdichtet sich topographisches Wissen nicht vielleicht erst später, im
Kontext von Beruf und Freizeit ?
·
Verfügen
ältere Menschen, vor allem solche, die Erdkunde (vor 1970 – Anm. Ch.S.:
gemeint ist Deutschland, für Österreich wäre äquivalent 1985 anzusetzen)
noch als länderkundliche Durchgänge erlebt haben, tatsächlich – wie oft
unterstellt – über ein profunderes topographisches Wissen ?
(Anm. Ch. S.: Man vergleiche zur diesbezüglichen Kritik am – ebenfalls
nicht erhebenden - Resultat eines länderkundlichen Unterrichts die Ergebnisse
jahrelanger Untersuchungen an Studenten, publiziert von E. ARNBERGER in Mitt.Österr.Geogr.
Gesellschaft 1982, S. 184-202 !)
·
Wie
steht es überhaupt um die ‚Nachhaltigkeit’ topographischen Wissens ? Was
bleibt ‚hängen’ ?
·
Wenn
bei Jugendlichen heute ein eklatanter (topographischer Wissensmangel
festgestellt und beklagt wird, ist dies tatsächlich eine Folge des (nicht mehr
länderkundlichen) fachdidaktischen Konzeptes ? Ist das überhaupt ein Problem
nur der Erdkunde ? Oder erklärt sich dieses Phänomen nicht viel eher aus dem
gesellschaftlichen Wandel, der auch die Lebens- und Lernbedingungen der heutigen
Jugendlichen erfasst hat ?
·
Wenn
man meint, die vorhandenen (topographischen) Wissensdefizite nicht hinnehmen zu
können, auf welche Weise und in welchen Zusammenhängen sollte/könnte dann
topographisches Lernen stattfinden ? Können intendierende, systematische, dem
Vokabellernen ähnliche Inszenierungen mit dem Ziel von ‚Topographierastern’
wirklich als erfolgversprechend bewertet werden –
Oder können nicht gerade d i e s e Lernweisen wirkungslos, ja (mit-)Ursache der beklagten Defizite sein ?
·
Kann
/soll topographisches Grundwissen tatsächlich an sich und für sich erworben
werden, oder bedarf es nicht vielmehr der Einbettung in bestimmte inhaltliche
Fragen ? Genauer: nicht irgendwelcher, im Fach ‚hoch gehandelter’ sondern
solcher, die von subjektiver Bedeutung für die Schüler sind ?
·
Wofür
soll topographisches Wissen, sollen topographische Raster, verstanden als
feststellbare, von Schülern eingeforderte Wissensbestände, eigentlich dienen ?
Ist das Insistieren auf ihre Relevanz für Schüler nicht u.U. ein deutlicher
Wink z.B. Schlüsselprobleme wie Hunger, Umweltzerstörung, Verelendung in der
3. Welt, die mit der Verortung assoziativ verbundenen Gehalte über Gebühr in
Ursachenerklärungen einzubeziehen (Hunger:
Afrika – Sahelzone – Trockensavanne – Niederschlagsvariabilität – natürliche
Bedingungen ), während sich
gesellschaftliche Faktoren einer solchen Verortung eher entziehen (und damit –
Anm. Ch.S.:im Unterricht allzu oft damit ‚unter den Tisch fallen’ ...?)
·
Machen
sich Vorstellungen, Bedeutungszuweisungen und Wissenserwerb nicht an ganz
anderen Kriterien als an „Raumbildern“ fest , nämlich an sozialen und
sozialisationsbedingten Prägungen und Erfahrungen ?
·
Richten
sich unsere intellektuellen Problemwahrnehmungen u.a. auch topographische (oder
begriffliche) Defizite, tatsächlich noch auf einen zeitgemäßen Gegenstand ?
Oder müssten wir nicht fragen: Auf welche sozialen Kompetenzen (= Schlüsselqualifikationen)
und anhand welcher lebensbegleitenden Fragestellungen (= Schlüsselprobleme) müssen
wir bei einem (annähernden Einstundenfach) unsere Bemühungen konzentrieren ?
.....
3.
Jugendliche und topographischer Wissenserwerb
Ein
Experiment mit meinem damals 11-jährigen Sohn bestätigte meine Skepsis gegenüber
‚inszeniertem’ topographischen Lernen:
Mit
Hilfe des Kartenspiels „Geo-Ralley“ (Interdidakt GmbH) übten wir etwa ein
viertelJahrlang als ‚Betthupferl’ die Zuordnung von Ländern zu Hauptstädten
und schließlich beherrschte mein Sohn die Grobtopographie Europas „aus dem Ef
– Ef“.
Nach
einjähriger Pause nahm ich dann das Spiel wieder auf, um die Nachhaltigkeit des
Gelernten zu überprüfen – das Ergebnis: Es war praktisch alles wieder in
Vergessenheit geraten, ausgenommen England/London und einiger Ferienreiseziele.
Zwar
wissen wir prinzipiell um die Schwierigkeiten, Dinge anbindungslos ‚für
sich’ zu lernen; jedoch stimmt dieses Beispiel skeptisch auch gegenüber den
stets wiederkehrenden Empfehlungen und publizierten Anregungen zu spielerischem
Wissenserwerb, was die erwünschte Langzeitwirkung anbetrifft.
...
Wie
sollen Schüler eine „Übersicht über Teilräume eines Kontinents“ gewinnen
...
Jugendliche
lernen beliebige Inhalte, gleichgültig wie wenig diese sie betreffen, im
Bewusstsein des nächsten angekündigten Tests – danach wird das Gelernte ad
acta gelegt..
...
5.
Grenzen akzeptieren – Chancen wahrnehmen
Jede Fachdidaktik muß ihre Ansprüche durch Reflexion der Erkenntnisse anderer Erziehungswissenschaften relativieren und begrenzen. Eine erste Grenze wird durch den Mechanismus der Informationsverarbeitung bereits gesetzt.
Dieser
verweist auf die tragende Funktion des SCHÜLERINTERESSEs.
...
Die
Topographie scheint hiervor (W.S.W. meint die erziehungswissenschaftlichen
Konzepte der Handlungsorientierung - Anm. Ch.S. )
scheint hiervon allerdings ausgespart worden zu sein: Spielerische
Vermittlung sind noch keine Schüler- und keine Handlungsorientierung.
...
Gibt
es schon keine objektiv bestimmbaren bzw. begründbaren topographischen
Wissensbestände, so erübrigen sich damit eigentlich apodiktische Forderungen
nach „Unverzichtbaren Mindestanforderungen“.
Perspektivenreicher
wäre es faschdidaktische Bemühungen auf das Ausloten vorhandener Spielräume
zu konzentrieren. Würde man nicht auf ausreichende Themen, Inhalte,
Fragestellungen stoßen, deren Sinn und subjektive Bedeutsamkeit Schülern
vermittelbar ist ? Bieten diese nicht genügend Möglichkeiten einer umfassenden
Orientierung, bei der dann die topographischen Aspekte organisch in
lebensweltliche Bezüge eingebunden sind ?
Siehe
dazu SCHRAMKE 1982, (im ‚ Metzler-Handbuch’ S. 251:) „...Nur strukturiert
Gelerntes wird behalten, isoliert stehende Einzelheiten, unverbundene Fakten
werden am raschesten vergessen ... Orientierungsvermögen entsteht bei der
themengebundenen Vermittlung ... Entscheidendes Gewicht ist der Zielsetzung
beizumessen, Schüler zum selbständigen Umgang mit topographischen
Informationsquellen zu befähigen. Wird der Satz ernst genommen, dass es
nicht darauf ankommt, alles zu wissen, sondern zu wissen, wo man es findet, so
werden nicht nur die Schüler von der Zumutung mechanischer Gedächtnisleistungen
entlastet, sondern auch darüber hinaus der Rechtfertigungsbedarf des Lehrers
gegenüber den Eltern und Kollegen, die aufgrund eigener Schulerfahrungen vom
Fach Erdkunde vor allem die Vermittlung von „Was-wo-Kenntnissen“
erwarten“.
...
Denn
Wissensstände bauen sich nicht linear oder konzentrisch auf, sondern selektiv
dort, wo psychische und emotionale Nähe hergestellt werden kann. Das ist der
Fall, wenn subjektive Betroffenheit und Betroffenheit mit
Informationsverdichtung einhergeht.
Wo
solche Nähe herrscht oder entwickelt wird, entstehen „Berge“, die mit der
Zeit geistig verbreitert oder miteinander verbunden werden können. Dazwischen
liegen aber weite „Talungen“. Solche „kognitive Bermudadreiecke“ sollten
wir als normal und natürlich betrachten lernen.
Dann
erübrigen sich Schuldzuweisungen in Richtung der Schüler, dass „keine
Grundlage“ vorhanden sei. Solche Klagen bringen niemanden weiter. Kritische
Selbstüberprüfungen, unter welchen (unzureichenden ) Bedingungen die Schaffung
topographischer, begrifflicher oder anderer „Grundlagen“ versucht worden
ist, wären hilfreich .
ANMERKUNGEN
Ch.Sitte (Inst.
Für Geographie der Universität Wien)
FRAGEN
im Rahmen ihrer Fachdidaktikveranstaltung :
a)
Im österreichischen LP (sowohl schon 1985, als auch 1999/2000
steht der Schlüsselsatz (Didaktische Grundsätze :) „Die regionale
Zuordnung der einzelnen Beispiele sowie die Zusammenfassende Darstellung auf
jeder Schulstufe hat gemeinsam mit topographischen Übungen den Aufbau eines
erdumspannenden topographischen Grundgerüsts zu sicher, das immer wieder
herangezogen und weiter verdichtet werden muss. Topographische Begriffe
sollen aber n i e
um ihrer selbst willen gelernt, sondern
i m m e r mit
bestimmtenSachverhalten bzw. Fragestellungen verbunden werden.“
Überprüfen
Sie anhand der ersten beiden Großkapitel von jeweils zwei der österreichischen
GW-Schulbücher der ersten Klasse Unterstufe (= 5. Schulstufe) bzw. dritten
Klasse ( = 7. Schulstufe) die konkrete Verwirklichung dieser Grundforderung !
b)
Vergleichen Sie diese weiters mit den oben von Schmidt-Wulffen gemachten
Feststellungen !
c)
Machen Sie mit ihrem Nachbarn ein Experiment: Nennen Sie einfach wahllos
aufgezählt 20 topographische Begriffe des bevölkerungsreichsten Staates der
erde – also aus China. Bzw. nennen Sie im Uhrzeigersinn die den US-Bundesstaat
Colorado umgebenden anderen US-Bundesstaaten - etwas einfacher : die an Salzburg
grenzenden Länder. Berichten Sie in der Gruppe was dabei herauskam !
Daß
hier verschiedene Faktoren eine Rolle spielen, vermittelt ihnen auch das
Experiment mit den konzentrischen Kreisen bzw. der Europakarte, wie es W.Sitte
in RGW, dem GW-Buch der AHS-Maturaklasse (Verl. Ed.Hölzel 1992, bzw. in
Aufl.1999, S. 97, Kapitel ‚Wahrnehmungsgeographie’) uns vorgeführt hatte
– oder die Auswertungsmöglichkeiten dazu bei K. TRINKO in GW-Unterr. 64/1996.
Eine
weitere Erkenntnis bringt ihnen das unten bei GWU64.htm angeführte Experiment
mit den Kontinentepuzzle.
d)
Nehmen sie Stellung zu der These: „Ob die Schüler über topographische
Kenntnisse und Fertigkeiten in ausreichendem Maße verfügen, ist primär eine
methodische Frage und weniger eine inhaltliche Frage“
e)
Und erweitern Sie an den jeweils zwei konkreten Großkapiteln der von
ihnen ausgewählten Bücher in Richtung auch anderer Möglichkeiten, wie sie
auch in den hier virtuell verfügbaren Beiträgen angeführt sind:
dazu
können Sie noch folgende Artikel verwenden:
http://www.univie.ac.at/geographie/ifgr/stzw/lehramt/fachdidaktik/home/chsSCHULBUCH.htm
http://www.univie.ac.at/geographie/ifgr/stzw/lehramt/fachdidaktik/home/Hitz231986TOP.htm
http://www.univie.ac.at/geographie/ifgr/stzw/lehramt/fachdidaktik/home/chsGWU64.htm
einige Hintergrundinformationen bietet ihnen http://www.quarks.de/gehirnakrobaten/00.htm und bes. davon diese Seite (vergl. Sie die mit den SB-Inhalten !)
__________________________________________