Ein Jahr nach seinem Wahltriumph ist Wolfgang Schüssel zwar nicht mehr der Strahlemann von damals,
aber keineswegs so lädiert, wie ihn die Opposition gerne hätte:
Im Stahlgewitter der Streiks scheint er sich wohl zu fühlen.
Ein Vergleich Schüssel - Thatcher
Noch nie zuvor in der Geschichte der Zweiten
Republik hatte ein Politiker bei Nationalratswahlen so viel hinzugewonnen, mehr
als 15 Prozentpunkte. Den Koalitionspartner hatte BK Wolfgang Schüssel bis an
seine Existenzgrenze ausgesaugt: 600.000 der 1,2 Millionen FPÖ-Wähler von 1999
wählten im Herbst 2002 schwarz.
Die taktische Meisterleistung, die er im Zuge dieses Aderlasses hingelegt hatte,
zeigte sich in der ersten Reaktion des blauen Wahlverlierers Herbert Haupt
(FPÖ): Der wünschte sich in der Stunde der Zertrümmerung seiner Partei nichts
anderes als eine Fortsetzung der Koalition mit der ÖVP.
Während linke Literaten - die 2000 & 2002 maßgeblich an den Demonstrationen
gegen die Bildung der Regierungskoalition von schwaz-blau beteiligt gewesen sind
- wie Peter Turrini und Ulrich Seidl kopfschüttelnd Geburtstag feierten,
trudelten Glückwünsche aus aller Welt ein.
„Eine große europäische Führungspersönlichkeit“ sei Freund Wolfgang, befand
Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi („Forza Wolfgang!“).
„Ich bin begeistert“, kabelte der einstige Zar von Bulgarien Simeon
Saskoburgotski, jetzt Regierungschef.
Bloß Kaisersohn Otto Habsburg-Lothringen befand etwas schräg: „Die Freiheitliche
Partei hat dem Land hervorragend gedient.“
„Was macht er mit dem Sieg?“, hieß es auf dem profil-Cover.
Ein Jahr danach weiß man es – Schüssel arbeitet konsequent an seiner Idee von
einem ganz anderen Österreich: schlanker und moderner in der Wirtschaft,
standfest in den Fragen der europäischen Integration, kleinmütig in der
Flüchtlingsfrage, oft rückwärts gewandt im ideologischen „Überbau“ und
kaltschnäuzig in der Sozialpolitik.
Schüssel weiß, wo er hinwill, und er strebt seine Ziele mit dem Trotz eines
alten Schlachtrosses an.
Nachgegeben wird nur bei Details, an den viel zitierten „Eckpunkten“ lässt er
nie rütteln.
Den 10-Prozent-Deckel bei der Pensionsreform – größer durften die Einbußen nicht
ausfallen – hätten ihm in Wahrheit nicht die Gewerkschaften abgerungen, sondern
Jörg Haider, berichten Eingeweihte.
Eisenbahner. Geradezu symbolhaft ist die Zeit rund um den ersten Jahrestag von
Schüssels großem Triumph vom mühsam beigelegten Aufeinanderprallen der tiefroten
Eisenbahner mit der schwarz-blauen Wenderegierung überlagert.
Schüssel, ein politisches Instinktwesen, macht etwas aus Macht.
„Er ist seit langem der erste Bundeskanzler, der weltanschaulich angebundene
Politik betreibt“, konstatiert „News“-Chefredakteur Peter Pelinka, dessen Buch
„Wolfgang Schüssel – eine politische Biographie“ am Mittwoch (19 Nov. 2003)
präsentiert wird.
Führungsstärke und Gestaltungswillen – diese Eigenschaften sind dem schwarzen
Kanzler wahrlich nicht abzusprechen.
Am Wahlabend sei Schüssel inmitten des Jubels relativ gelassen geblieben,
erzählt ein zentraler ÖVP-Funktionär. Während der Niederösterreicher Erwin Pröll
vor Begeisterung das Hemd durchschwitzte und Generalsekretärin Maria
Rauch-Kallat demütig dem Herrgott dankte, „dass er unserem Wolfgang Schüssel die
Kraft gegeben hat“, freute sich der kühle Kalkulierer mit den Seinen, ohne je
die Kontrolle aus der Hand zu geben.
Kurz nach der Wahl, so ein Teilnehmer der Runde, habe man sich dann
zusammengesetzt und beraten, wie es weitergehe. Der Großteil der
Spitzenfunktionäre sei für Schwarz-Rot gewesen, Ernst Strasser und Wilhelm
Molterer plädierten für Schwarz-Grün. Bloß Andreas Khol war für einen
Zweitversuch mit Schwarz-Blau.
Das wollte auch Schüssel, der allerdings tat, was er oft tut: Er schwieg.
Genau drei Monate später trat die neue Koalitionsregierung aus ÖVP und FPÖ zur
Angelobung bei Bundespräsident Thomas Klestil an, der als Zeichen des kleinen
Protestes die Außenministerin wie schon bei der ersten Angelobung „Benito“
nannte.
Diesmal war man nicht mehr durch den Fluchttunnel in die Präsidentschaftskanzlei
gegangen, sondern praktisch unbehelligt über den Ballhausplatz.
Am Tag der Regierungserklärung versammelte sich gerade ein Häuflein von
Juso-Aktivisten an der Ecke des Rathausparks, um zu protestieren. Auf einen
Demonstranten kamen etwa 25 Polizisten.
Vom Widerstand der „Zivilgesellschaft“ wird das Kabinett Schüssel II nicht mehr
belästigt.
Mancher ihrer einstigen Vordenker scheint inzwischen im Lager des Triumphators
gelandet zu sein. Die Wähler hätten eben den „billigen Rummel“ um die Bildung
der schwarz-blauen Regierung durchschaut, meinte etwa der Philosoph Rudolf
Burger. Er erwarte jetzt „ein Ende der Verdächtigungen einer Wiederkehr des
Faschismus“.
Jeder entdeckte nun seinen ganz persönlichen Schüssel.
Heilige Dreieinigkeit. Selbst der FPÖ-Ideologe Lothar Höbelt lief ins schwarze
Lager über und begründete dies mit Griff in historische Mottenkisten: Ihn habe
die Anwesenheit von Schüssel und Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer bei Otto
Habsburgs Geburtstagsfest überzeugt: „Da war die heilige Dreieinigkeit von Adel,
christlich-sozialem und nationalem Lager mit einem Mal vollbracht.“ Höbelt in
einem Interview wenig später: „Ab jetzt hat das linke, intellektuelle
Schickeriamilieu eben nichts mehr zu sagen.“ Höbelt heute: „Ich habe meine
Entscheidung, Schüssel zu wählen, nicht bereut. Ganz im Gegenteil.“
Konservativ zu sein ist dem Strom der Zeit tatsächlich etwas näher gerückt,
traditionelle Werte zählen wieder mehr, seit Wolfgang Schüssel seinem Lager
diesen denkwürdigen Sieg beschert hat.
Der Kanzler ist – so stürmisch er Althergebrachtes in Wirtschaft und Sozialstaat
auch bekämpft – in gesellschaftspolitischen Fragen ein Traditionalist:
Nachhaltig vertritt er herkömmliche Familienformen, Forderungen der
Homosexuellen-Initiativen stand er stets reservierter gegenüber als das Gros
seiner Partei.
Oft vermischt sich Ideologie mit Pose: Ungeniert unterstellte er dem braven
Grünen Alexander Van der Bellen in der TV-Debatte vor der Wahl, er wolle
Österreich mit einem Netz von Haschtrafiken überziehen. Dem SPÖ-Vorsitzenden
Alfred Gusenbauer kam der ehemalige Außenminister an Elmar Oberhausers rundem
Tisch in Hausmeistermanier: „Tun S’ nicht Englisch reden“, ermahnte er den
Roten, als der sich eines Fremdwortes bediente.
In der Frage, ob Gott in die Verfassung soll, hält es Schüssel mit seinem in
Weltanschauungsfragen wichtigsten Partner, Nationalratspräsident Andreas Khol:
„Ich finde es beschämend, dass man überhaupt darüber nachdenkt, ob man sich nun
des Beitrags des Christentums, der jüdischen Wurzel, der islamischen Befruchtung
in Wissenschaft und Literatur besinnen soll“, meinte er Donnerstag vergangener
Woche in einem profil-Interview.
Auf europäischer Ebene organisieren inzwischen die ÖVP-Abgeordneten im
Europaparlament Unterschriften für eine erzkonservative Initiative, wonach nur
das Christentum in der europäischen Verfassung explizit genannt werden soll.
110.000 der insgesamt 320.000 bis Anfang November gesammelten
Unterstützungserklärungen kamen aus Österreich.
Denkwürdige Travestie: Während der niederösterreichische Bauernbündler Erwin
Pröll vorvergangene Woche im italienischen Maßanzug die Großausstellung des
Aktionisten Hermann Nitsch im Klosterneuburger Essl-Museum eröffnete, lässt der
Kanzler aus Wien-Hietzing keine Gelegenheit aus, um sich in Tracht zu
präsentieren, zuletzt ausgiebig bei der ÖVP-Klubtagung in St. Wolfgang.
Das „Konzept der gebrochenen Moderne“ hat der Politologe Fritz Plasser das
einmal genannt.
Mit derselben Hingabe, mit der sich Schüssel regelmäßig zu Exerzitien in
steirische Klöster zurückzieht, widmet er sich jenem Reformwerk, das das Land so
tief spaltet.
Je höher die Wogen dabei gehen, desto wohler scheint sich Käpt’n Schüssel zu
fühlen: „Wir haben eben Hochbetrieb auf der Modernisierungsbaustelle“, feixte
der Kanzler vergangenen Donnerstag bei einem Hintergrundgespräch mit
Chefredakteuren österreichischer Zeitungen, als die Rede auf den damals noch
unbefristeten Eisenbahnerstreik kam.
Schüssels diesbezügliche Philosophie durchzieht jede Rede: Der internationale
Konkurrenzdruck in einer globalisierten Welt werde härter, nur wer schlank und
wendig sei, komme da mit. Daher also: So wenig Staat wie möglich, so viel privat
wie nur geht. Mehr Eigenvorsorge statt Vorsorgedenken, weniger Solidarprinzip,
mehr Selbstverantwortung. Sozialabbau als zwangsläufige Folge der
Globalisierung.
In den entsprechenden Verhandlungen ist der drahtige Sportler seinen Gegnern oft
überlegen. 14 Stunden lang bearbeitete der Kanzler die Sozialpartner vergangenen
Mai während des Streits um die Pensionsreform in einer Nachtsitzung und sah
danach immer noch recht frisch aus.
Pokerface. „Er ist bemerkenswert“, erzählt ein Freiheitlicher, der Schüssel
schon oft am Verhandlungstisch beobachtet hat: „Wenn andere nervös werden,
beginnt er zu zeichnen oder spielt an seinen Fingernägeln herum. Er zieht die
Dinge beinhart durch, erklärt seinem Gegenüber aber freundlich, wieso dieser aus
der Sache nur Vorteile ziehen werde, wogegen er, Schüssel, auch Nachteile in
Kauf nehmen müsse.“
Der grüne Abgeordnete Peter Pilz, im Februar Mitglied des
Koalitionsverhandlungsteams seiner Partei, formuliert das weniger liebevoll:
„Wer ihm die Hand gibt, wird über den Tisch gezogen. Nach dem Motto: Ich bin der
Kanzler, du gibst nach.“
Überdies versteht es Schüssel meisterhaft, Flächenbränden auszuweichen. Beim
Rangeln mit den Eisenbahnern ließ er dem Verkehrsminister den Vortritt – das
Ende des Streiks verkündete er selbst und nicht etwa der Chef der Gewerkschaft.
„Mit dem feinen Lächeln des Sprengstoffexperten, der die selbst verursachten
Detonationen in sicherer Entfernung genießt, beobachtet Wolfgang Schüssel die
politische Landschaft“, schrieb der „Spiegel“ feinsinnig im vergangenen
Dezember.
Dieses Geschick, vor allem aber die politische Bulligkeit des schmächtigen
Kanzlers fasziniert viele seiner Anhänger.
„Ich bin Wechselwähler, würde aber Schüssel wieder wählen, weil er der einzige
Kanzler seit Kreisky ist, der Reformen überhaupt angeht“, meint der ehemalige
ORF-Generalintendant Gerd Bacher: „Er hat dabei das Handicap, dass nicht nur die
Opposition, sondern – zum Unterschied von Deutschland – auch ein Großteil der
Medien reformunwillig ist.“
Solange das Projekt von den Wählern mit getragen wird, lässt seine Partei
Schüssel den scharfen Kurs halten – und bislang gab es seit der Nationalratswahl
bei allen Urnengängen Zugewinne, wenngleich mit fallender Tendenz: Setzte es bei
der Gemeinderatswahl in Graz im Jänner für die ÖVP ein Plus von 12,8
Prozentpunkten und gewann Erwin Pröll im März in Niederösterreich noch 8,4
Punkte hinzu, schnitten Herwig Van Staa in Tirol (+2,7) und Josef Pühringer in
Oberösterreich (+0,7) bei den Landtagswahlen im September nur noch bescheiden
ab.
Vor allem den oberösterreichischen Parteifreunden hatte der Kanzler durch den
eiskalten Verkauf der Voest in der Woche vor der Wahl viel Leidensfähigkeit
abverlangt.
Wolfgang Thatcher („Economist“)?
Maggie Schüssel („Format“)?
Die Kritik nach der enttäuschenden Oberösterreich-Wahl dürfte mitverantwortlich
dafür gewesen sein, dass Schüssel vergangenen Freitag, beim Wirtschaftskongress
seiner Partei in Salzburg, erstmals auch öffentlich in sich ging: „Manche
unterstellen mir, ich sei gefühllos. Ich bin vielleicht manchmal zu
entschlossen, ich will das gar nicht leugnen … aber eine gute Regierung muss
Themen setzen.“
Die Themen würden halt sehr einseitig gesetzt, moniert die Arbeiterkammer. Deren
Experten haben errechnet, dass die Maßnahmen der beiden Schüssel-Regierungen die
Arbeitnehmer pro Jahr mit 1,8 Milliarden Euro belasten, die Unternehmer aber nur
mit 0,39 Milliarden Euro – eine Addition, die von Wirtschaftskammer und
Regierung wegen Zuordnungsunschärfen natürlich bestritten wird.
Dennoch: „Der Begriff Reform hat nicht mehr denselben positiven Beigeschmack wie
früher“, schließt Günter Ogris, Chef des SORA-Instituts, aus einem
Zahlenmaterial: „Es gibt immer mehr Menschen, die sagen, sie wollen eine
Regierung, die auf die soziale Gerechtigkeit schaut.“ Vor allem in den großen
Städten schmelze das blendende ÖVP-Ergebnis vom November 2002 in der Glut der
sozialen Auseinandersetzungen dahin. Ogris: „Dort gibt es tatsächlich so etwas
wie eine Wendestimmung für Rot-Grün.“
So dramatisch stellt sich die Lage in Gesamt-Österreich laut einer vergangene
Woche im Auftrag von profil durchgeführten market-Umfrage für Schüssels Partei
nicht dar. Wohl glaubt nur ein Drittel, die ÖVP könne ihr Wahlergebnis von 2002
halten oder sogar noch ausbauen. Im Kanzler-Ranking liegt der Hochrisiko-spieler
Schüssel dennoch nur relativ knapp hinter Franz Vranitzky und deutlich vor
Viktor Klima.
„Überraschenderweise gehört Schüssel in den Umfragen nicht zu den totalen
Abstürzlern wie etwa Finanzminister Grasser und Wirtschaftsminister Bartenstein.
Er sinkt – aber nicht so dramatisch“, meint OGM-Chef Wolfgang Bachmayer.
Das Meinungsforschungsinstitut OGM ermittelt seit vergangenem März einen so
genannten Vertrauensindex. Dessen Ergebnis: Schüssel hat viel an Vertrauen
verloren, liegt aber deutlich besser als Herbert Haupt FPÖ (Hubert Gorbach wurde
noch nicht abgefragt).
Das sei alles aufholbar, meint Gerd Bacher: „Schüssel hat schon oft aus dem
Strafraum gekontert. Unerklärlich ist bloß die katastrophale
Öffentlichkeitsarbeit der Regierung.“
Am Jahrestag des Triumphs wird die ÖVP jedenfalls ein großes Fest für die
Wahlkampfmitstreiter in der Politischen Akademie in Wien-Meidling geben.
Q.: Profil 47 / 2003 http://www.news.at/profil/index.html?/articles/0346/561/69237_s1.shtml