Am Ende der alten Zeiten                                         
Der Streik hat die alte Sozialpartnerschaft beerdigt und eine neuen Diskurs eingeleitet

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Der umfassendste Streik in der Geschichte der Zweiten Republik setzte eine historische Zäsur: Mit den flächendeckenden Arbeitsniederlegungen wurde gestern die Ära der alten Sozialpartnerschaft endgültig zu Grabe getragen. Das mag manchen als längst überfällig und nachträgliche Adaption der gewünschten an die realen politischen Verhältnisse erscheinen, und vielleicht werden gerade sie den seligen Zeiten einer noch nicht brüchigen Welt bald nachweinen, was angesichts des zur verklärenden Erinnerung stets aufgelegten österreichischen Gemüts nicht weiter verwunderlich wäre.

Abseits solcher Sentimentalitäten lässt einer neuer Ton aufhorchen, auf den die Regierung achten sollte, obwohl oder gerade weil er auf der Straße angeschlagen wurde, die dem elitären Verständnis von Kanzler Wolfgang Schüssel und Co zufolge kein Austragungsort politischer Diskurse ist. Dieser Ton lässt den Schluss zu, dass einige Rechnungen, die im Vorfeld des Streiks aufgestellt wurden, nicht aufgegangen sind.

Zum ersten hat die einfache Addition vermeintlich zuverlässiger österreichischer Gewohnheiten wie der generellen Antipathie gegen gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen plus daraus resultierender Ablehnung jeder Form organisierter Arbeitsniederlegung nicht das erwartete und von der Regierung wohl auch erhoffte Resultat erbracht.

Der Großteil der Bevölkerung signalisiert nicht nur Verständnis für das Vorgehen der Gewerkschaften, er teilt auch den angestrebten Zweck, also die Rücknahme dieser Pensionsreform. Damit ist nachträglich die nicht besonders kluge Zuspitzung auf die Frage, ob es nun ein politischer Streik war oder nicht, als das kenntlich gemacht, was sie von Anfang an war: eine belanglose Haarspalterei, die vom Kern der Auseinandersetzung ablenken sollte.

Zweitens ist Versuch der Regierung, die Streiks als fragwürdiges und den sozialen Frieden gefährdendes Instrument zu diskreditieren, gründlich daneben gegangen. Die grobe Antwort der Gewerkschaften entsprach der gröberen Vorgangsweise der Pensionsreformer, und wer jetzt sein Gläschen darauf hebt, dass es doch nicht zum großen Verkehrschaos gekommen ist und einige wenige Unternehmen den Streik erfolgreich unterlaufen haben, hat das Ausmaß der sich anbahnenden klimatischen Veränderung im Land nicht erkannt. Ob sich diese kurzfristig politisch niederschlägt, ist freilich noch offen.

Viel hängt davon ab, was die Gewerkschaften in den nächsten Wochen noch aus dem Köcher ziehen. Es ist davon auszugehen, dass sie den eingeschlagenen Weg fortsetzen und die Regierung bis zur Abstimmung der Pensionsreform im Parlament unter Druck setzen werden - umso mehr, als sich die Furcht vor massiver Ablehnung der Streiks durch die Arbeitnehmer, die auch im Gewerkschaftsbund grassierte, nun weitgehend als unberechtigt herausgestellt hat.

Damit haben auch die Funktionäre des ÖGB an politischem Gewicht zugelegt, was mancher, der die Auseinandersetzung mit der Regierung in den letzten Wochen als Demütigungsritual erlebte, nun als wohltuenden Balsam empfinden wird. Kanzler Schüssel dürfte dies instinktiv erkannt haben, fielen doch seine letzten Wortmeldungen in diese Richtung um einiges gemäßigter aus als die harschen Ankündigungen seiner Parteikollegen, dem "Druck der Straße" nicht zu weichen.

Schüssel steht in den nächsten Tagen jedenfalls einigermaßen unter Verhandlungsdruck, der unbequemerweise vom eigenen Regierungspartner noch erhöht wird. Denn die FPÖ hat, daran ändern die gegenteiligen Beteuerungen des zunehmend schwächelnden Parteichefs Herbert Haupt nichts, schon ein Alternativpapier zur Pensionsreform vorbereitet, das den derzeitigen Entwurf ziemlich abräumen soll. Dass die FPÖ auf diese Weise zum effizientesten Helferlein der jahrelang bekämpften Gewerkschaften wird, ist eine paradoxe Nuance, an die man sich erst gewöhnen muss. Ganz unwitzig ist sie jedenfalls nicht.

Qu.:DER STANDARD, Printausgabe, 7.5.2003