Japan wird zum "Altenstaat" Unternehmen kürzen Renten

Immer mehr Senioren müssen von ihren Ersparnissen oder der Hilfe von Verwandten leben.

Von unserer Korrespondentin ANGELA KÖHLER

TOKIO. Zunächst die gute Nachricht: In Japan, dem Land mit der weltweit höchsten Lebenserwartung, sind die Chancen auf ein langes Leben weiter gestiegen. Japanerinnen können mit einem durchschnittlichen Lebensalter von 84,93 Jahren rechnen, Männer werden 78,7 Jahre alt, wie das Tokioter Gesundheitsministerium vor kurzem mitteilte.

Die schlechte Nachricht: Wegen sinkender Kapitalrenditen sehen sich immer mehr Unternehmen gezwungen, ihre Rentenzahlungen einzuschränken. Bis Ende März haben mehr als 20 Prozent der untersuchten Firmen ihre Zahlungen an die Pensionskasse gekürzt, ergab eine Erhebung des Arbeitsministeriums. Vieles spricht dafür, daß Japan der erste "Altenstaat" der Welt wird.

Bisher hat Nippon sein Problem mit den Alten gern verniedlicht. Fast schon als Sieg japanischer Überlegenheit wird gefeiert, daß diese Nation mit hoher Geschwindigkeit "ergraut". Jedes Jahr wächst die Rentner-Population um ein halbes Prozent, derzeit beträgt der Bevölkerungsanteil der Alten rund 17 Prozent. Die Weltspitze, so prognostiziert die Tokioter Regierung, wird spätestens in zwei Jahren erreicht sein. 2007 ist jeder fünfte Japaner Rentner, 2025 jeder Dritte.

Plötzlich warnt auch die Regierung: "Das Sozialsystem ist unter diesen Umständen nicht mehr zu finanzieren." Genaugenommen verstößt sie längst gegen die Verfassung. Die US-Besatzungsmacht hatte in die Nachkriegskonstitution Nippons die Sozialstaatsverpflichtung gedrückt: "Jeder Bürger hat das Recht auf ein Mindestmaß an gesundem und kultiviertem Leben. Auf allen Gebieten hat der Staat sich um die Entwicklung und Mehrung des sozialen Wohls, der sozialen Sicherheit und der allgemeinen Gesundheit zu bemühen."

Doch wer das verbindlich als Generationsvertrag versteht, muß den schleichenden Sozialabbau verschlafen haben. Mehrfach schon hat das Oberste Gericht diesen Paragraphen als "Programmpunkt und nicht als einklagbares Recht" interpretiert. Ohne laute Medienbegleitung setzte der Reichstag Ende 1994 das männliche Rentenalter einfach wieder von 60 bzw. 62 auf 65 Jahre hinauf. Keiner hat öffentlich gemurrt, obwohl die Tokioter Parlamentarier ihren Wählern damit kräftig in die Tasche griffen.

Zehn Jahre bis zur Rente

Arbeitsverhältnisse laufen in Japan zumeist nur bis zum 55. Lebensjahr. Lediglich wenige Ausnahmen erhalten danach Zeitverträge, allerdings mit deutlich geringeren Bezügen. Ohne Job muß der Familienernährer den zehnjährigen Übergang zur öffentlichen Altersversorgung aus privaten Ersparnissen finanzieren. Das weiß er aber von Kindesbeinen an und hat darauf ein ganzes Leben gespart. Fast 54 Prozent des japanischen Privatvermögens liegen in den Händen von 60jährigen oder älteren Menschen.

Jetzt besteht der Rentenfonds für Arbeitnehmer aus drei Teilen: Zum einen aus einem öffentlichen Rentensystem, in dem die Bezüge festgelegt sind; zum anderen aus einer Volksrente und aus einem Arbeitgeber-System, in dem die Unternehmen die Höhe ihrer Rentenzahlungen gemäß einer erwarteten Kapitalrendite zwischen drei und fünf Prozent kalkulieren. Doch in einer Zeit, in der sich die Zinssätze in Japan nahe Null bewegen und der Börsenindex Nikkei auf wenig mehr als ein Viertel seiner Höchststände abgerutscht ist, sehen sich viele Unternehmen nicht in der Lage, durch Anlage des Rentenkapitals Gewinn zu erzielen.

Heute gibt es etwa 33 Millionen Beitragszahler (bei 126 Millionen Einwohnern). Die Sätze liegen etwa bei 17,5 Prozent des Bruttoeinkommens, wobei der Arbeitgeber meist die Hälfte übernimmt. In der Großindustrie kommt das Privileg der Firmenpension hinzu, womit der öffentliche Sozialbeitrag auf relativ geringe 3,2 Prozent sinkt.

Parallel zu diesem Sicherungssystem gibt es eine Art "Volksrente" zur obligatorischen Minimalsicherung, in die jeder Japaner ab seinem 20. Lebensjahr Beiträge einzahlen muß, selbst wenn man beispielsweise als Hausfrau frühzeitig aus dem Arbeitsprozeß ausscheidet oder sich selbständig macht. Die Beiträge sind aber mit umgerechnet 115 Euro sehr gering, und entsprechend schlecht ist die Gegenleistung. Fünf Jahre lang zahlt diese Kasse jährlich 6260 Euro, dann 15 Prozent weniger.

Die öffentliche Rente ist nominell nicht schlecht. Ein Ehepaar mit 40 Berufsjahren kommt auf durchschnittlich 2100 Euro monatlich. Eine besondere Tücke in Japan ist jedoch, daß diese Rentenansprüche in der Regel auf 15 Jahre nach Eintritt des Ruhestandes beschränkt sind. Danach muß der Pensionär von seinem Ersparten oder der Familie leben.

Die schlechte Wirtschaftslage und der Kursverfall an den Kapitalmärkten reißen jedoch in die ohnehin nur grobmaschigen Sicherungsnetze riesige Löcher. Die angenommene Kapitalrendite von 5,5 Prozent wird seit 1994 unterschritten und liegt jetzt bei etwa drei Prozent, obwohl die Mittel teilweise dem Staat zur Finanzierung seines Zweithaushalts, des Investitions- und Kreditprogramms, zur Verfügung gestellt werden, wo eine bessere Rendite als am Kapitalmarkt erzielbar ist. 1999 überschritt der Anteil der Leistungsberechtigten erstmals die 50-Prozent-Marke. Wie stark sich die Lage verschlechtert, zeigt der Vergleich mit 1987, als dieses Verhältnis noch 30 zu 70 betrug.

19.08.2002

Quelle:Print-Presse